Gruppenfoto im Staatstheater Darmstadt | Foto: Mitarbeiterin Staatstheater Darmstadt © ROPE
Im Rahmen des Darmstädter Festivals "Alles inklusive?!" veranstaltete Netzwerk ROPE e.V. am Sonntag, 17. Mai 2015 im Staatstheater Darmstadt seine zehnte Lebende Bibliothek.
Für die Jubiläums-Ausgabe stellten sich dreizehn Lebende Bücher zur Verfügung, denen wir an dieser Stelle nochmals herzlich für ihren Einsatz danken möchten!
Einige Lebende Bücher sind seit 2010 dabei, für andere war es die erste Erfahrung mit dem Projekt.
Als neue Bibliothekar*innen kamen Christian und Kerstin zu ihrem ersten Einsatz; auch ihnen herzlichen Dank!!!
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtete in ihrer Ausgabe vom 18. Mai 2015 unter dem Titel "Gespräche gegen Vorurteile. "Lebende Bibliothek" beim ersten Inklusions-Festival" wie folgt:
Barbara Akdeniz (Die Grünen) hat sich gestern im Bücherkatalog "Die Transe" ausgesucht und sich anschließend neben Florianne in das Foyer des Staatstheaters auf einen Sessel gesetzt. Florianne wurde vor 32 Jahren mit den "Geschlechtsmerkmalen eines Mannes" geboren. Wie sie sagt, hat sie aber schon mit zwölf Jahren das sichere Gefühl entwickelt, eine Frau zu sein. Nach Namensänderung, Hormonbehandlung und Operation ist sie das inzwischen auch. Im Foyer erzählte die Unternehmerin Darmstadts Sozialdezernentin Akdeniz lebhaft und guter Stimmung von ihrem nicht ganz gewöhnlichen Lebenslauf gut 30 Minuten lang. Dann war die Lektürezeit in der "Lebenden Bibliothek" abgelaufen. Die Lebende Bibliothek ist nicht der literarischen Phantasie eines Walter Moers entsprungen, sondern der Arbeit des Vereins Rope, der unter anderem einen Jugendclub betreibt. Dass Menschen wie Bücher ausgeliehen werden können, wurde in Kranichstein vor fünf Jahren erstmals erprobt und jetzt zum Abschluss des ersten Darmstädter Inklusionsfestivals angeboten. Man ermöglicht auf diese Weise das Gespräch von Personen, die sich womöglich sonst nie begegnen würden, und trägt damit zum Abbau von Vorurteilen und Stereotypen bei. Dass die einmal gebildeten Muster im Kopf eine hartnäckige Existenz führen, hat Florianne der Dezernentin an vielen Beispielen zeigen können: "Egal, wie dein Leben als Transe wirklich ist, es gilt immer noch als anormal." Wer ist normal, wer ist anormal, wer gesund, wer behindert – diese Fragen sind in Darmstadt während des Festivals über zwei Wochen hinweg in 29 verschiedenen Veranstaltungen auf unterschiedliche Weise gestellt worden – in Kunstausstellungen von Behind-Art ebenso wie bei Lesungen, Konzerten, Theateraufführungen, während eines dreitägigen Symposiums und einem Markt der Inklusion. Gestern fand "Alles inklusive?!" mit der Lebendigen Bibliothek – in der außer der "Trans" etwa auch ein Rollstuhlfahrer oder ein Blinder zum Gespräch "ausgeliehen" werden konnten – mit einer Podiumsdiskussion zu "Menschenbilder" seinen Abschluss. Die Diskussion der Journalistin Güner Balci mit dem Wissenschaftler für Behindertenpädagogik, Georg Feuser, und dem Leiter des Instituts für Theaterwissenschaften an der Universität Mainz, Friedemann Kreuder, war ebenfalls mit Ausrufe- und Fragezeichen versehen. Feuser plädierte sogar dafür, auf den Begriff „Normalität“ vollkommen zu verzichten, da sich in der Charakterisierung eines Menschen als behindert nur ein gesellschaftliches Machtkalkül widerspiegele: "Die Behinderung, die wir einem Behinderten andichten, ist letztlich nur Ausdruck unseres Versagens, ihm Zugang zur Welt zu verschaffen." Auch Kreuder vertrat die Ansicht, jeder, der "inkludiert", tue dies schon mit einer "hegemonialen Idee" im Hintergrund. Einig waren sich die Diskutanten auf dem Podium, dass auf dem Weg zur Teilhabe noch eine lange Strecke zurückzulegen ist. "Inklusion ist bis jetzt eine große Idee, die aber nicht ausreichend umgesetzt wird. Dazu müsste sie auf der Agenda der Kanzlerin stehen", sagte Balci. Die zwei Wochen Inklusions-Festival haben das Thema in Darmstadt jedenfalls weiteren Bevölkerungskreises nahegebracht. Schauspieldirektor Jonas Zipf, einer der Festival-Initiatoren, zog am Sonntag ein positives Resümee: "Wir haben mit unserer Aktion einen Nerv in der Stadt getroffen." Mit dem Zuspruch zu den Veranstaltungen sei er insgesamt zufrieden, nur bei der hochqualifizierten inklusiven Kultur habe sich gezeigt, dass das Publikum dieses Label noch scheue. Florianne hat auf ihrem langen Weg zur Selbstakzeptanz ihre Scheu längst abgelegt. Über ihr Leben spricht sie offensiv und immer erkennbar verbunden mit dem Wunsch, Verständnis zu wecken. Bei ihren Eltern, die aus Unverständnis über die Entwicklung ihres Kindes einst auf Distanz gegangen waren, ist ihr das gelungen: "Unser Verhältnis ist heute sehr gut, sie sind richtig stolz auf mich."
Wir danken den Organisatoren des Inklusions-Festivals, allen voran Meike Heinigk, Geschäftsführerin der Centralstation Darmstadt und Jonas Zipf, dem Schauspieldirektor des Staatstheater Darmstadt für die Möglichkeit, unser Format in diesem spannenden Rahmen präsentieren und erstmals das Staatstheater als Veranstaltungsort nutzen zu können.
Herzliche Grüßevom Team der "Lebenden Bibliothek"